Artikel von Christian Sigrist über Amilcar Cabral

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                                                    DAS ARGUMENT 288/2010
Christian Sigrist

Amilcar Cabral
Die Bezeichnung »kritisch-engagierter Intellektueller« unterschreitet die Bedeutung
des Ingenieurs Amilcar Cabral für die Geschichte der Befreiungsbewegungen. Wir sehen uns mit einem
politischen Genius konfrontiert, der sein politisches Ziel: die Befreiung seiner Heimatländer
Guiné-Bissau und Kapverde1  von der portugie- sischen Kolonialherrschaft erreicht hat, auch wenn er
sie nicht erleben durfte. Ein Genie wie Cabral lässt sich nicht auf seine Zugehörigkeit zur
technischen Intelli- genz oder zu den »›ideologischen‹ Ständen« (Marx, MEW 23, 469) reduzieren. Er
vereinte wissenschaftliche und technische Kompetenz mit einer seltenen Luzidität in der Analyse
politischer Zusammenhänge und vermochte dank dieser Qualitäten als glänzender Rhetor auch ein
vielfach wechselndes Publikum zu überzeugen. Mit Mario de Andrade zu sprechen, war er ein
»rassembleur d’hommes« (1980, 5). Diese Fähigkeit, Menschen unterschiedlicher Herkunft
zusammenzuführen, sie für ein gemeinsames Ziel zu mobilisieren, ließ ihn wohl auch die Probleme
unterschätzen, die aus den unterschiedlichen Erfahrungen und Interessen der kapverdisch-kreo-
lischen und der guineischen Bevölkerung resultierten.
I
Geboren wurde Amilcar Cabral am 12. September 1924 in Bafatá, einer Kleinstadt im Nordosten der
portugiesischen Kolonie GB, als Sohn von Juvenal Lopes Cabral, eines nicht diplomierten
kapverdischen Lehrers, und dessen ebenfalls von der Insel Santiago stammenden Frau Iva Pinhel
Evora. Nach einem sehr guten Abschluss am Licéu von Mindelo verließ er 1945 den Archipel, um
mithilfe eines Stipendiums in Lissabon Agronomie zu studieren. Die große »Krise«, die aus
jahrelangen Dürre- perioden resultierenden Hungerkatastrophen mit 20 000 Toten 1940 und weiteren
30 000 Toten während der Jahre 1942-1948, werden sein politisches Bewusstsein prägen, nachdem sein
Vater bereits seinen umfangreichen Grundbesitz an die portu- giesischen Banken verloren hatte. In
Lissabon führt Cabral eine Doppelexistenz: Er schließt 1950 seine Studien mit hervorragenden Noten
als Agraringenieur und als Kolonialagraringenieur ab. Während der Studienjahre beteiligte er sich
aktiv an den Diskussionen afrikanischer Studenten. Zu seinen engen Freunden zählen Marcelino dos
Santos, Eduardo Mondlane, Agostinho Neto und Mario de Andrade, die späteren Gründer der
Befreiungsbewegungen in Moçambique bzw. Angola. Mit diesen Freunden diskutierte er die von Aimé
Césaire und Léopold Senghor mit dem Begriff der »Négritude« propagierte Wiederentdeckung
afrikanischer Geschichte
1   Im Folgenden werden Guiné-Bissau als GB und Kapverde als CV abgekürzt.

und eigenständiger afrikanischer Kulturen. Bei den Diskussionen in der Casa dos Estudantes do
Imperio und in der Casa d’Africa profi lierte er sich als unerschro- ckener Verfechter einer freien
Diskussion, die sich von den Tabus des autoritären Salazar-Regimes nicht unterdrücken ließ. Nach
einer langen Diskussion in der Casa d’Africa fordert Cabral die »anständigen Afrikaner« erfolgreich
zum Verlassen des durch kompromisslerische Tendenzen geprägten Hauses auf und beweist dabei seine
Qualität als »rassembleur d’hommes«. Gemeinsam mit den erwähnten Freunden und dem Tomenser
Francisco José Tenreiro gründet er das Zentrum für afrikanische Studien, in dem er insbesondere
über Landnutzung und -techniken, einschließlich der Brandrodung, in Schwarzafrika referiert.
Während des Studiums zeichnete er sich auch als Fußballer aus und erhielt sogar ein Angebot von
Benfi ca, das er aller- dings nicht annahm.
1949 gestaltete er ein Radioprogramm im kapverdischen Praia, das von den ersehnten Regenfällen
ausging und auf großes Interesse stieß, aber bald von der Provinzregierung gestoppt wurde. In
dieser Zeit entstanden seine Artikel über die Erosionsproblematik, die 1949 und 1950 in der
Zeitschrift Cabo Verde unter dem Titel
»Em defesa da terra« erschienen. Mit den Erosionsproblemen im Alentejo beschäf- tigte er sich in
seiner ersten berufl ichen Phase. Seine Tätigkeit im Kolonialdienst begann er 1952 in GB auf den
kolonialstaatlichen Versuchsfarmen. 1953/54 orga- nisierte er den Agrarzensus für diese Kolonie,
der in Durchführung und elaborierter Auswertung als vorbildlich gilt. Die Arbeit an diesem Zensus
verschaffte ihm eine umfassende Kenntnis der ländlichen Produktionsweisen und deren Zusammenhang
mit ethnischer Spezialisierung und politischer Organisation. Vor allem aber knüpfte er zahlreiche
persönliche Kontakte, die für die Vorbereitung und Organisation des bewaffneten Kampfes, der am 23.
Januar 1963 mit einem Angriff auf ein Fort und sein Gefängnis in Tite begann, wichtig werden
sollten. Während seines Aufent- halts in GB betreibt er kritische Studien zur Anwendbarkeit der
Mechanisierung in tropischen Regionen. In einem Aufsatz von 1954 weist er ausführlich auf die
erheb- lichen Probleme und engen Grenzen, auf die eine Mechanisierung des Ackerbaus trifft, hin. Es
dürfte sich dabei um eines der ersten Dokumente einer ökologischen Refl exion der Grenzen der
technischen Modernisierung in der tropischen Landwirt- schaft handeln.
Die prinzipielle Ablehnung des Kolonialregimes hatte sich bei Cabral schon in Mindelo
herausgebildet. In Lissabon lernte er im Kontakt mit Oppositionellen die repressiven Seiten des
Salazar-Regimes, das er wie viele andere als faschistisch charakterisierte, kennen. Im Unterschied
zum Naziregime und zum italienischen Faschismus beruhte das Salazarregime aber nicht auf
Massenmobilisierung,  für jüdische Flüchtlinge war es ein sicheres Durchgangsland. Salazar ging es
um Ordnung auf den Straßen und in den Finanzen. Im Unterschied zu den beiden Haupt- varianten des
Faschismus war Portugal modernisierungsschwach und musste daher die Ausbeutung seiner einträglichen
Kolonien Angola und Moçambique europä- ischen, us-amerikanischen und südafrikanischen Konzernen
überlassen. Rassismus und Unterdrückung in den afrikanischen Kolonien, die brutale Verfolgung von

Kommunisten und anderen Oppositionellen zeigen aber doch eine große Nähe zu faschistischen Methoden
(in der ehemaligen PIDE2-Zentrale habe ich hunderte von Fotos gefolterter Gefangener selbst
gesehen).
Gleichwohl wollte Cabral auf die Probe stellen, was in diesem kolonialfa- schistischen System
möglich war. Das Kriterium dafür war allerdings nicht seine persönliche Karriere: Ihm standen
aufgrund seiner fachlichen Qualifi kation und seiner persönlichen Ausstrahlung alle Aufstiegswege
offen. Ihm ging es um die Verbesserung der Lebensbedingungen  der Afrikaner. Die Gründung eines
Club Desportivo in Bissau ist ein Versuch, die Veränderungsmöglichkeiten  im System auszuloten.
Cabral entwirft 1954 dessen Statuten, welche die Mitgliedschaft auch von Nicht-Assimilierten
zuließen. Dem Club wird von der Kolonialverwaltung die Anerkennung verweigert. Der Gouverneur
erklärt Cabral 1955 persönlich seine entschiedene Ablehnung des Projekts und verweist ihn des
Landes mit dem Zugeständnis, einmal im Jahr aus familiären Gründen besuchsweise zurückkehren zu
dürfen (Andrade 1980, 49). Mit diesem bescheidenen Test ist bewiesen, dass in diesem Kolonialsystem
keinerlei legale Selbstorganisation möglich war. Unter konspirativen Umständen wird die
afrikanische Unabhängigkeitspartei PAI3  von Amilcar Cabral und fünf weiteren Mitstreitern am 24.
September 1956 in Bissau gegründet. Cabral setzt seine berufl iche Arbeit in Angola fort, wobei er
seine Reisen und Aufenthalte zu Treffen mit den angolanischen Freunden aus der Lissaboner Zeit
nutzt und sich an der Gründung des MPLA beteiligt. In vorbildlicher Weise zeigt er, dass durch
solide Professionalität subversive Aktivitäten abgeschirmt werden können.
Trotz seiner berufl ichen Spezialisierung sieht Cabral in GB die Priorität der politischen
Mobilisierung zunächst in den städtischen Milieus, insbesondere bei den Arbeitern im Hafen von
Bissau. Die Hafenarbeiter erreichen im Februar
1956 zunächst auch durch einen Streik eine Lohnerhöhung; aber der von der klandestinen Partei
unterstützte Versuch der Docker und Matrosen, durch eine Demonstration eine weitere Lohnerhöhung zu
erreichen, endet am 3. August 1959 im Massaker von Pidjiguiti mit 50 Toten. Aus dieser Erfahrung
ergibt sich die Notwendigkeit, den antikolonialen Kampf aus dem eng überwachten urbanen Bereich in
die ländlichen Gebiete zu verlagern. Noch vor der ersten bewaffneten Aktion versucht Cabral am 13.
Oktober 1961 in einem offenen Brief an Salazar, mit dem Vorschlag einer Konferenz über eine
friedliche Beendigung der Koloni- alherrschaft eine Verständigung mit der portugiesischen Regierung
zu erreichen. Da dieser Brief wie ein früheres Schreiben der Partei an die portugiesische Regierung
ohne Antwort blieb, war die Entscheidung für den bewaffneten Kampf unausweichlich. Cabral hat aber
stets betont, dass sich dieser Kampf gegen das kolonialfaschistische Regime, aber nicht gegen das
portugiesische Volk richtete.

2   Policia Internacional e de Defesa do Estado, portugiesische Geheimpolizei, gegründet von
Salazar nach dem Vorbild der Gestapo.
3   Im Oktober 1960 wird die Partei in PAIGC (Partido Africano da Independencia de Guiné-
Bissau e do Cabo Verde) umbenannt.

Diese Position drückte sich auch in der international beachteten Behandlung der gefangengenommenen
portugiesischen Soldaten, auch ihrer Kriegspiloten, aus, die dem Roten Kreuz überstellt wurden.

II

Cabral versucht zunächst, die Häuptlinge der »vertikalen« Gesellschaften (Fulas und Mandingas) für
den Kampf zu gewinnen. Abgesehen davon, dass die Häuptlinge im Allgemeinen aus Widersachern der
Portugiesen zu deren Kollaborateuren geworden sind, muss er ihre Hegemonieansprüche ablehnen. Es
bleiben nur die »horizontalen« Gesellschaften als Foci des Widerstandes. Eigentlich war seit 1936
der Wider- stand auch der segmentären Gesellschaften gebrochen. Aber die Verschärfung der
»Corvées«, d.h. der Zwangsarbeit im Straßenbau, schuf in den ländlichen Gebieten neuen Unmut.
»Corvées« wurden umso mehr als Belastung empfunden, als es nicht mehr um Pfade für Beamtensänften
ging, sondern um Straßen für Automobile. Als besondere Demütigung wurde die Zumutung empfunden,
dass die Verwaltung entgegen den traditionellen Normen die Arbeiter nicht mit Speisen und Getränken
versorgte, sondern diese von Frauen und Kindern gebracht werden mussten. Diese Demütigung kam zu
der bereits bestehenden Hüttensteuer und zum Zwangshandel (Verkauf von Reis und Erdnüssen an
Kolonialhandelsgesellschaften) hinzu.
Große Beachtung fand die 1961 mit Unterstützung von Basil Davidson in London veröffentlichte
Schrift The facts about Portugal’s African colonies über die histo- rischen Grundlagen und die
sozialen Verhältnisse in den afrikanischen Kolonien Portugals. Die ökonomische Misere, die durch
eine zurückgebliebene Metropole verursacht ist, die extremen Ausbeutungsformen der Zwangsarbeit und
die Recht- losigkeit der großen Masse der Bevölkerung (nur 0,3 % sind als »assimilados« anerkannt)
sind mit rassistischer Verachtung afrikanischer Kulturen verbunden. In keiner der Kolonien gibt es
eine Universität.
Die späteren Arbeiten über die Sozialstrukturen von CV und GB stellen kontrastiv eine übergreifende
Analyse her. Leitender Gesichtspunkt ist, dass die portugiesische Kolonialverwaltung die
eigentliche Herrschaft ausübt. Die Analyse geht zunächst von der Klassenstruktur der CV aus: als
Ergebnis der portugiesischen Herrschaft ist eine schüttere Klassenstruktur übrig geblieben, die
einheimische Grundbesitzerschicht ist weitgehend verarmt. Die übrig gebliebene kleine Klasse der
Großgrundbesitzer steht auf der Seite des Kolonialismus, die Masse der Landbe- völkerung wird von
Kleinbauern und Pächtern gebildet.
Privilegiert sind in den Städten die hohen europäischen und kapverdischen Beamten sowie eine kleine
Anzahl reicher Kaufl eute und Industrieller; darunter stehen die Angestellten und Lohnarbeiter,
schließlich die Arbeitslosen. Es gibt keine nationale Bourgeoisie, nur eine Kolonialklasse.
Umgekehrt gibt es kein städtisches Proletariat. Das Kleinbürgertum besteht aus Angestellten,
kleinen Kaufl euten und Freiberufl ern. Sie zerfallen in zwei Fraktionen: eine konservative und
eine »rebel- lische«.

Die während eines Seminars im Centre Frantz Fanon in Treviglio (1.-3.5.1964) vorgelegte Kurzanalyse
der Sozialstruktur im »portugiesischen Guinée« wird als Grundlage des nationalen Befreiungskampfes
vorgestellt (139). Cabral stellt zwei verschiedene Gesellschaftsformen heraus: die »halbfeudalen
Fula« einerseits und andererseits die Balante, die das zahlenmäßig stärkste Ethnos darstellen, als
eine der Gesellschaften »ohne Staat«. Die Fula sind islamische Häuptlingsgesellschaften, in denen
zwar Gemeineigentum an Land, aber auch Arbeitspfl ichten zugunsten des vielfach privilegierten
Häuptlings bestehen. Die Frauen sind rechtlos, Polygamie ist verbreitet. Bei den animistischen
Balante sind die Frauen erheblich besser gestellt; sie verfügen über von ihnen selbst hergestellte
Produkte. Hinzuzufügen wäre: sie haben als Verheiratete das Recht auf einen Liebhaber außerhalb
ihres Dorfes. Die staatslosen Gesellschaften haben der Kolonialmacht mehr Widerstand entgegen-
gesetzt als die Häuptlingstümer; sie haben eine größere Bereitschaft gezeigt, sich dem nationalen
Kampf anzuschließen. Aber: die Bauernschaft ist keine prinzipielle revolutionäre Kraft, sie ist
physisch stark, aber ihre Mobilisierung ist schwierig.4
In der Stadt gibt es eine ähnliche Fraktionierung des Kleinbürgertums wie auf CV;
das Proletariat ist »embryonal« (144). Vom Kleinbürgertum verlangt Cabral den
»Suizid«. Abschließend appelliert Cabral an die Solidarität der »westlichen Linken«, die sich mit
den Realitäten der Länder der kapitalistischen Peripherie vertraut machen und gegen den
Imperialismus als gemeinsamen Feind kämpfen sollen.
In späteren Erläuterungen auf einem Seminar 1969 präzisiert Cabral, dass die Bauern keine Klasse
sind, sondern eine heterogene Schicht (155). Die Balante hält er für eine Form der Aufl ösung des
Urkommunismus, die allerdings kolonial modifi ziert ist. Zugleich hält er die Fula nicht für eine
Feudalgesellschaft wegen des fehlenden Privateigentums an Land. Er bezweifelt, ob der Begriff
»asiatische Produktionsweise« anzuwenden ist, weil er die Analyse der konkreten afrikanischen
Sozialstrukturen eher kompliziert als erleichtert. Beachtlich allerdings ist, dass er einen
spätestens seit der durch Stalins Unterschlagung verfälschenden Wiedergabe der Passage über die
»progressiven Epochen der ökonomischen Gesellschaftsform« (MEW 13, 9) unter orthodoxen Marxisten
verfemten Begriff überhaupt zur Sprache bringt. Cabral stellt in seiner Soziologie des guineischen
Widerstandes zu Recht die Balante, die stärkste Ethnie der Kolonie, als Prototyp der horizontalen
Gesell- schaften heraus. Allerdings spielten in der Anfangsphase des bewaffneten Kampfes die
Beafada eine besondere Rolle: Sie sind ein in der Mandingisierungsphase5  und Islamisierung befi
ndliches Ethnos, das allerdings noch seine matrilineare Struktur beibehalten hat. Söhne des
damaligen (und letzten) Regulo, einer eher rituellen

4   Das Argument, in China sei die Mobilisierung der Bauern einfacher gewesen, weil sie über eine
lange Tradition von Aufständen verfügten (143), überzeugt nicht, weil die Balante für ihre
Widerständigkeit (nach Cabral geht ihr Ethnonym sogar auf diese Eigenschaft zurück) so bekannt
waren, dass sie nur zu Niedrigpreisen als Sklaven zu verkaufen waren.
5   Die kleine, in der Provinz Quinara lebende Ethnie der Beafada wurde durch das Vordringen der
patrilinearen und islamischen Mandinga, die vom Senegal bis zur Elfenbeinküste und im Norden bis
Mali und Niger verbreitet sind und in der Vergangenheit teilweise in König- reichen organisiert
waren, sprachlich assimiliert und oberfl ächlich islamisiert.

Instanz, haben durch die Zuführung von Waffen den Angriff auf das Gefängnis von
Tite in der Region Quinara, die hauptsächlich von Beafada besiedelt ist, ermöglicht.6
Cabral betonte den Vorrang der Soziologie vor der biologischen Genetik in der Erklärung ethnischer
Differenzierung (345) und befand sich damit in Über- einstimmung mit der social anthropology, die,
obwohl im kolonialen Kontext entstanden, dank der anarchistischen wie undogmatisch-marxistischen
Orientierung ihrer Begründer während der Studentenzeit entschieden antirassistisch war. Nicht
umsonst galten ihre Protagonisten als Partisanen ihrer Stämme. Die folgenreiche Abgrenzung im
Kommunistischen Manifest von der Soziologie (MEW 4, 491) hängt zusammen mit der schwer erträglichen
Pedanterie des Systemschematikers Auguste Comte, der den Begriff »Sociologie« kreiert hatte und
dessen Ordnungsdenken ihn anfällig für den Bonapartismus machte. Sein späterer Mystizismus kam
erschwe- rend hinzu. Dann war auch noch der Ärger mit den »Comteschen Arbeitern«, die sich der
Internationalen Arbeiterassoziation angeschlossen hatten. Diese Abgren- zung wurde mit Lenins
Polemik gegen den »gewissen Herrn P.A. Sorokin« und seine
»soziologischen Untersuchungen« verschärft7, wodurch bedeutende Soziologen aus der Sowjetunion
vertrieben und das Fach, wie später auch in der maoistischen VR China, gestrichen wurde.
1970 bescheinigt Cabral Lenin in seiner Rede in Alma Ata, dass er ein unbe- grenztes Vertrauen in
die Massen gehabt, andererseits aber »gezeigt« habe, dass diese niemals in der »Anarchie« handeln
und »akephal« sein dürften. Bemer- kenswert dabei ist, wie umstandslos Cabral den Begriff der
Akephalie aus der social anthropology entlehnt, andererseits aber nicht auf die Umsetzbarkeit
dieser Position auf sein eigenes Wirkungsfeld eingeht. Der Massenbegriff ist auf Klein- staaten wie
CV und GB nicht anwendbar (was in der Rhetorik der Politiker auch nach der Unabhängigkeit oft nicht
bedacht wurde). Es bleibt der Widerspruch, dass das Fehlen politischer Herrschaft in den
horizontalen Gesellschaften Ansatzpunkt für die politische Mobilisierung war, dass die Partei aber
ihre Befehlsgewalt und eine moderne Disziplin durchsetzen musste, auch um den Machtmissbrauch durch
Kommandanten zu unterbinden. Diese Prinzipien wurden auf dem ersten Kongress der Partei in Cassacá
im März 1964 auch durch Exekutionen durchgesetzt.
Cabral war ein pragmatischer Revolutionär: Er entwickelte die Theorie der Befreiung nicht aus
doktrinären Prinzipien, sondern aus einer Vielzahl persönlicher Erfahrungen, die er mit der
soziologischen Methode der Interpretation gesellschaft- licher Tatsachen systematisierte. Während
Kwame Nrumah auf einem Wandbild in seinem Präsidentensitz die social anthropology als
Kolonialwissenschaft verun- glimpfen ließ, war für Cabral die »britische Schule« eine zu nutzende
Ressource; so gab er in seiner Kurzbibliographie zur »Rolle der Kultur im Unabhängigkeitskampf«
einen Aufsatz des südafrikanischen social anthropologist Adam Kuper an.
Cabrals intellektuelle Entwicklung hatte zwar durch die »Négritude« einen

6   Möglicherweise wollte Cabral durch seine diskrete Darstellung massive Repressalien der
Kolonialmacht gegen diese Unterstützer-Ethnie vermeiden.
7   Deutscher Nachdruck in Unter dem Banner des Marxismus, 1. Jg. 1925, 18.

entscheidenden Impuls erfahren. Aber er entwickelte eine differenzierte Analyse, welche der
Komplexität und Vielfalt afrikanischer Gesellschaften und ihrer Kulturen adäquater ist als die
generalisierende Kulturphilosophie Senghors. Cabral verwarf die Konzeption einer einheitlichen
afrikanischen Kultur und sprach von der kulturellen Pluralität des afrikanischen Kontinents. In
seinem 1972 der UNESCO vorgelegten Text über die Rolle der Kultur im Unabhängigkeitskampf  fordert
er, außer der Geschichtswissenschaft die Ethnologie und die Ethnographie auszuwerten. In seiner
1970 gehaltenen Gedenkrede für den 1969 ermordeten Eduardo Mondlane merkt er kritisch an, dass der
Négritude-Ansatz ebenso wie der Panafrikanismus außer- halb Afrikas in der Karibik und im
afroamerikanischen Milieu der USA entwickelt wurden. Er kritisiert die Schädlichkeit
»nicht-selektiver Elogen«, d.h. die einseitige Hervorhebung der Vorzüge der afrikanischen Kultur,
die nicht auf deren Defi zite eingeht (329). Selbstverständlich preist er die Rückkehr des
hochqualifi zierten Dr. Mondlane ins »Dorf«. Er weist aber allgemein auf die problematischen
Aspekte der Rückkehr von Assimilierten zu ihren Wurzeln hin. Gleichwohl bilden die Kulturen
afrikanischer Völker eine wichtige Grundlage für deren Mobilisierung gegen die Kolonialherrschaft.
Er betont besonders die Notwendigkeit, den Afrikanern die ihnen abgesprochene Geschichte wieder
zurückzugeben. Geschichtlichkeit setzt nicht Klassenbildung und »Technizität« voraus. Dem
Kolonialismus war es nämlich nicht gelungen, den kulturellen Widerstand der afrikanischen Völker zu
zerstören. Die unterschiedlichen ethnischen Kulturen müssen im nationalen Rahmen harmo- nisiert und
entwickelt werden. Auf der anderen Seite müssen sich die Assimilierten reafrikanisieren.
Cabrals Aussagen zu Ethnizität und Tribalismus sind widersprüchlich. Einerseits bezeichnet er das
Stammesproblem als eine »große Schwäche« (203), andererseits behauptet er, die Zeit der
Stammesgesellschaften in Afrika sei »abgelaufen« (204). Auch wenn es richtig ist, dass die
ethnischen Konfl ikte im Kern Ressourcenkon- flikte sind und verursacht und verschärft werden durch
die Rohstoffgeschäfte internationaler Konzerne, kann man nicht verhehlen, dass seit Cabrals Tod
ethnisch etikettierte Konfl ikte im subsaharischen Afrika enorm zugenommen haben. Es bleibt aber
positiv festzuhalten, dass er die damalige Konstellation in GB nicht geleugnet und eine
agrarethnologisch unterlegte soziologische Analyse, die von der social anthropology beeinfl usst
war, vorgelegt hat.
In dem oben erwähnten Papier für die UNESCO bezeichnet er den Imperialismus als notwendig, indem
durch seine Produktivkraftentwicklung und die Akkumulation des Kapitals Strukturen des Aufstiegs in
den Metropolen geschaffen wurden. Die portugiesische Assimilationspolitik verwirft er hingegen als
gescheitert (340). Auf die öfter wiederkehrende Frage zur Relevanz des Marxismus antwortet Cabral
im Oktober 1971 mit der Gegenfrage: »Is Marxism a religion? I am a freedom fi ghter in my country.
You must judge from what I do in practice.« (Rudebeck 1974, 227) Andererseits bekannte er sich im
November 1965 eindeutig zum demokratischen Zentralismus (II, 218). Allerdings hob er die zu
erfüllenden Demokratisierungspos- tulate hervor. Mit der Einführung der »comités de tabanca«
(Dorfkomitees) strebte

er eine Stärkung basisdemokratischer Institutionen an, wobei die Festsetzung einer
Frauenquote (2 von 5) positiv hervorzuheben ist. Hinzu kam die Institution der
»tribunais de tabanca«. Die Vorbereitung und Durchführung von Wahlen im Jahr
1972, wodurch trotz des Primats des PAIGC auch Nicht-Parteimitglieder  in die Parlamente gewählt
werden konnten, dient der Mobilisierung und bildet die instituti- onelle Basis für die Proklamation
der Unabhängigkeit am 24.9.1973.

III

1960 wurde das Sekretariat der Partei in Conakry eröffnet. Guiné-Conakry wird zum Hauptverbündeten
des PAIGC. Die Einrichtung der »Pilotschule in Conakry« und von Buschschulen in den befreiten
Gebieten stieß weltweit auf Interesse. Die Partei begnügte sich nicht mit der Propagierung des
Boykotts der Kolonialgesellschaften, sondern schuf eine Gegenökonomie in der Form von Armazens do
Povo, in denen mit Naturaltausch und daran koppelbaren Gutscheinen, teilweise auch mit Hilfe von
ausländischen Spenden, die Versorgung der guineischen Bevölkerung verbessert werden sollte.
Cabral spielt eine hervorragende Rolle bei der Herstellung von internationalen Kontakten, die
Voraussetzung waren für die Aufnahme des bewaffneten Kampfes. Er wirkt mit bei der Herstellung
einer Infrastruktur für die Befreiungsbewegungen der portugiesischen Kolonien in Marokko und gehört
1961 zu den Begründern von deren Zusammenschluss im CONCP; er weitet die Kontakte auf Algerien,
Tunesien und Ägypten aus. Im August 1960 reist er nach China und entsendet sechs Kader zur
Ausbildung an der Militärakademie in Nanking. In seinem einzigen Gespräch mit Mao Dze Dong zu einem
späteren Zeitpunkt lässt er sich allerdings nicht zur Parteinahme im Kampf zweier Linien drängen.
Die Lieferung von Waffen wird weitgehend von der UdSSR übernommen. Sie bietet auch Studienplätze
für Guineer an. Cabral nimmt Kontakt zu allen wichtigen sozialistischen Ländern auf, auch zur DDR.
Von besonderer Bedeutung sind die Beziehungen zu den Führern der kuba- nischen Revolution. Im
Januar 1966 hält er als Leiter der Partei-Delegation auf der Gründungskonferenz der
Trikontinentalen in La Habana eine wegweisende Rede über die Grundlagen und Ziele der nationalen
Befreiung und ihr Verhältnis zur Sozialstruktur, die 1970 als erster Teil der »L’arme de la
théorie« bei Maspero veröf- fentlicht wird.8  Cabral berät sich mit Fidel Castro und anderen
Kommandanten über die Probleme des bewaffneten Kampfes. Kubanische Offi ziere wirken als Berater
»vor Ort«, auch Che Guevara gehörte zeitweilig zu ihnen.
Cabral legt aber auch Wert auf die Herstellung von Beziehungen zu sozialdemo- kratisch regierten
Ländern wie Holland und Schweden, die sowohl Studienplätze wie materielle Unterstützung boten. Ein
großer Erfolg war die Audienz im Vatikan am 1.7.1970, wo er als Sprecher der Befreiungsbewegungen
von Papst Paul VI. empfangen wurde. Reden vor der Syracuse University und vor dem Auswärtigen

8   Sie ist in der großen UNESCO-Publikation, die als Band I von Unité et lutte unter dem gleichen
Titel 1975 erschien, veröffentlicht.

Ausschuss des US Kongresses in 1970 waren Höhepunkte von Cabrals diploma- tischer Offensive. Sie
gipfelte in seinen Auftritten vor UN-Gremien. 1968 hatte er die Kolonialverbrechen der Portugiesen
vor der UN-Menschenrechtskommission angeklagt. Im Februar 1972 fi ndet eine Sitzung des
UN-Sicherheitsrats erstmals in Addis Abeba statt. Cabral erreicht, dass die UNO eine Delegation in
die befreiten Gebiete entsendet, um die De-facto-Souveränität des guineischen Volkes festzu-
stellen. Im Juli 1972 lässt Cabral auf einer UNESCO-Tagung in Paris einen Text über die Rolle der
Kultur im Kampf um die Unabhängigkeit verlesen. Im Oktober dieses Jahres spricht er vor der 4.
Kommission der UN-Vollversammlung und kündigt die Proklamation des neuen Staates und die
Einrichtung einer Regierung an, was auch aufgrund des Delegationsberichts auf breite Zustimmung
stößt.
Cabrals Vision, die Befreiung vom Kolonialismus mit der Herstellung der Einheit von GB und CV
sowohl auf Partei- als auch auf Staatsebene zu verbinden, konnte sich einerseits auf enge
historische und anthropologische Zusammenhänge berufen. Dabei unterschätzte Cabral aber die
Ressentiments, welche die Rolle der
»weißen Kapverdianer« im Sklavenhandel und die Kolonialverwaltungsfunktionen der Kreolen auf dem
afrikanischen Kontinent auslösten. Schon unter den sechs Parteigründern war nur ein Guineer; die
Partei wurde von einer »permanenten Kommission« geführt, die nur aus Kapverdianern (Aristides
Pereira, Amilcar Cabral und seinem Bruder Luis) bestand.
Cabral fühlte sich als Afrikaner; trotz seiner kapverdischen Herkunft iden- tifi zierte er sich mit
den unterdrückten Menschen von GB. Er nahm an, dass die kolonialgeschichtlich bedingten Dualismen
durch den gemeinsamen Kampf über- wunden und durch dessen Erfolg ein nationales Bewusstsein
hergestellt würden. Die Zurückstellung seiner persönlichen Belange, die ihn auszeichnete, führte
dazu, dass er die Gefahren, die ihm aus seiner unmittelbaren Umgebung drohten, nicht wahrnahm.
Seine rechtsstaatliche Orientierung war der Grund dafür, dass er sich weigerte, aufgrund von
Verdächtigungen Parteimitglieder verhaften zu lassen. Am
20. Januar 1973 ermordeten ihn zwei guineische Mitglieder seiner Leibwache, als er sich deren
Entführungsversuch widersetzte. Die Frage nach den Drahtziehern des Attentats ist auch nach den
umfangreichen Recherchen des portugiesischen Journa- listen Castanheira nicht geklärt. Ein Ergebnis
von dessen Untersuchung scheint aber zu sein, dass die antiimperialistische Legende, die PIDE und
General Spínola hätten diese Entführungsaktion zu diesem Zeitpunkt in Auftrag gegeben, nicht
zutrifft. Richtig bleibt, dass die PIDE die Partei seit ihrer Gründung und auch im guineischen Exil
infi ltriert hatte. Auf Cabral war schon früh ein sehr hohes Kopfgeld ausgesetzt worden. 1970 hatte
ein portugiesisches Kommando in Conakry vergeblich versucht, die Regierung Sékou Touré zu stürzen
und dabei die PAIGC-Führung zu verhaften und notfalls zu ermorden. Entführungsaktionen wurden auch
nach dem Scheitern dieses Kommandos noch eine Zeit lang geplant. Bereits einige Zeit vor dem
Attentat hatte sich aber Spínola für eine Strategie des Dialogs mit Amilcar Cabral, einschließ-
lich eines Treffens an einem neutralen Ort, entschieden. Nach Castanheira wurden sowohl der General
wie die PIDE von den Nachrichten über das Attentat überrascht.

Trotz der Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission wurden die Hintergründe der
Ermordung nicht aufgeklärt und die Verschwörungsstränge nicht identifi ziert. Das gilt auch für die
dubiose Rolle des guineischen Präsidenten Sékou Touré, der nach dem Attentat eine Delegation der
Verschwörer empfi ng. Offensichtlich stand Amilcar Cabral seinem Projekt eines Groß-Guineas im
Wege.
Die Spannungen zwischen Guineern und Kapverdianern spitzten sich im Putsch vom 14.11.1980 zu. Dabei
kamen zwei Kommissare ums Leben, während Präsident Luis Cabral, dem die Hinrichtung von
Oppositionellen vorgeworfen wurde, die Ausreise erlaubt blieb. Viele kapverdische Offi ziere und
Beamte emigrierten nach CV. Der kapverdische Flügel der Partei erklärte seine Unabhängigkeit als
PAICV, während der guineische Flügel merkwürdigerweise bis heute am alten Parteinamen festhält.
Neuer Präsident von GB wurde der populäre Kriegsheld João Bernardo Vieira, gen. Nino. Mit dem
Militärputsch war die von Cabral geschaffene legitime Ordnung beschädigt: Vieira musste sich
mehrerer Putschversuche erwehren; 1986 wurde Paulo Correia, ein prominenter Veteran des
Befreiungskampfes, der die Inte- ressen der Balante vertrat, trotz internationaler Proteste und
eines Gnadengesuches des Papstes hingerichtet.

IV

Cabral verweist auf die analytischen und praktischen Probleme, die sich aus der Klassenaporie
vieler Kolonien ergeben: die herkömmliche Klassenanalyse lässt sich nicht anwenden, weil ein
Industrieproletariat fehlt. Auf CV wie in GB fällt der Kleinbourgeoisie die Rolle der Avantgarde im
antikolonialen Kampf zu. Indem Cabral aber in GB die Bauern nur als physische Kraft der Revolution
wahrnimmt, nicht aber als Subjekt der Revolution, formuliert er ein Dilemma, das nicht durch
Parteistatuten und auch nicht durch selbstkritische Fragen an das Kleinbürgertum (Verrat an der
Revolution oder Suizid begehen?) gelöst werden konnte. Dieses war nicht das gesellschaftspolitische
Problem der guineischen Revolution: es bestand im bewaffneten Personal der guerilha. Schon die
Ermordung des Revolutionsführers durch seine eigene Leibwache verwies auf die einseitige
Kräfterelation, die im Titel
»L’arme de la théorie« verdeckt wurde. Die nachrevolutionäre Rolle der Streitkräfte nach der
Unabhängigkeit, deren Demobilisierung nur schleppend vorankam und die Amalgamierung von ethnischen
Zugehörigkeiten und militärischen Rivalitäten führten zu einer Delegitimierung politischer
Herrschaft bis hin zur gewaltsamen Beseitigung von Rivalen, welche 1998/99 die Intervention
senegalesischer und conakry-guineischer Truppen ermöglichte. Diese richteten im gerade wieder
restau- rierten Bissau erhebliche Schäden an, dessen Bewohner in die Flucht und Vieira in die
Emigration getrieben wurden.
Im Jahr 2000 konnte zwar der Balante Kumba Yala die Präsidentschaftswahl gewinnen, aber die
Eigenheiten dieses Philosophielehrers  führten zu Unruhen und schließlich zu seiner Absetzung.
Vieira konnte sich schließlich wieder ins Präsidentenamt wählen lassen: aber am 2. März 2009 wurde
der einstige Kriegsheld,

nachdem ihm die Ermordung des Generalstabschefs vorgeworfen wurde, nicht nur erschossen, sondern
aus Angst vor seinen Amuletten mit Macheten zerstückelt. GB war inzwischen zum wichtigsten
afrikanischen Umschlagsplatz für harte Drogen geworden. Cabral hatte die Gefährdungspotenziale der
afrikanischen Revolution durchaus gesehen und vor den negativen Seiten der afrikanischen Kultur,
dem Glauben an grisgris und ihrer »Schwäche vor der Natur« gewarnt.
Die nachkolonialen Fehlentwicklungen  hätte er vor allem in der ländlichen Entwicklung vermieden;
die jetzige Misere kann nicht auf Fehlentscheidungen seinerseits zurückgeführt werden. Im
Nachhinein erscheinen seine ständigen Mahnungen zur Disziplin, die gerade bei einzelnen
Kommandanten schlecht ankamen, als berechtigt; er hatte die Gefahren, die vom Machtmissbrauch von
Mili- tärs ausgehen, frühzeitig erkannt.
Cabrals Vision der Herstellung der Einheit von CV und GB ging nicht in Erfüllung, weil 1975 klar
war, dass die politischen Konstellationen zu verschieden waren, um die Einigung sofort
herzustellen. In CV stellte sich der Partei die Herausforderung, nach einer siebenjährigen
Dürreperiode das physische Überleben der Bevölkerung zu sichern: diese Aufgabe galt als schwieriger
als der Aufbau nationaler Strukturen in GB. Paradoxerweise löste die Partei diese Aufgabe in
hervorragender Weise. In der Folgezeit wurden die CV-Projekte wegen der Effektivität und der
Transparenz ihrer Rechnungslegung  von Weltbank und IWF als vorbildlich gewürdigt. Die Einführung
des Mehrparteiensystems führte zwar 1991 zur zehnjährigen Herrschaft einer rechten Koalition,
welche einen Teil der Investitionen »privatisierte«; der PAICV konnte aber 2001 die Macht
zurückgewinnen. Cabrals Projekt hat sich also in seinem familiären Herkunftsland bewährt.
Cabral hat sowohl die kapverdische Intelligenz wie die Werktätigen in Bissau und v.a. die
guineischen Bauern für den antikolonialen Kampf mobilisiert. Der seiner Ermordung folgende Sieg
über die portugiesische Kolonialarmee an allen Fronten hat die Nelkenrevolution vom 25.4.1974
ausgelöst und damit auch die Unabhängigkeit von CV erzwungen sowie zur Beschleunigung der
portugiesischen Abzugsverhandlungen mit MPLA und FRELIMO geführt. Auch nach mehr als 15
Jahren war im guineischen »mato« noch die Wirkung von Cabrals Charisma selbst bei jenen, die von
der nachkolonialen Entwicklung enttäuscht waren, zu spüren. Auf der anderen Seite ist
festzustellen, dass seine Bedeutung vielen Afrikanern, auch akademisch gebildeten, unbekannt ist.
Daran haben auch Symposien wie 1983 und
2004 in Praia nichts Wesentliches geändert.9

9   Im Rahmen dieser kurzen Würdigung Amilcar Cabrals ist es nicht möglich, ausführlich auf die
Gemeinsamkeiten und Differenzen mit Frantz Fanon einzugehen. Im Unterschied zu Fanon, mit dem er in
der Frage der Legitimität antikolonialer Gewalt und in der Skepsis gegenüber postkolonialen
Führungsschichten und ihrer Instrumentalisierung der négritude- Ideologie übereinstimmte, sah
Cabral die politische Ambivalenz traditioneller ländlicher Sozialstrukturen schärfer und grenzte
sich von Fanons positiver Einschätzung des Lumpen- proletariats als »spontaner revolutionärer
Masse« ab. Cabral hat auch Fanons These, dass die Kolonisierten mit der Kultur der Metropolen
brechen sollten, implizit widersprochen, für ihn gehörten Camões’ Lusiaden zum eigenen kulturellen
Erbe. Außerdem sah er in Gremien

Literatur
Im Folgenden werden nur die im Text benutzten Werke Amilcar Cabrals, institutionelle Publika-
tionen und Biographien sowie einige Texte zu besonderen Problemen angegeben.
Werke
Amilcar Cabral, Unité et lutte, Bd. 1: L’arme de la théorie, Bd. 2: La pratique révolutionnaire,
Paris 1975 (sämtliche im Text mit einfacher Seitenzahl nachgewiesenen Cabral-Zitate fi nden sich in
Bd. 1); dt. Die Theorie als Waffe, hgg.v. der Cabral-Gesellschaft, Bremen 1983 (die technischen
Mängel dieser Ausgabe hat der Autor dieses Artikels nicht zu verantworten)
ders., Estudos Agrários, Lisboa-Bissau 1988 (700 S. Texte zur Landwirtschaft)
Parteipublikationen
PAIGC, História: A Guiné e as Ilhas de Cabo Verde, Paris 1974 (mit Unterstützung der
UNESCO)
PAICV, Continuar Cabral, Simpósio Internacional Amilcar Cabral, Cabo Verde, 17.-20.1.1983, Odivelas
1984
Biographien
Andrade, Mario de, Amilcar Cabral, Paris 1980
Castanheira, José Pedro, Quem Mandou Matar Amilcar Cabral?, 3. Aufl ., Lisboa 1999
Chilcote, Ronald H., Amilcar Cabral’s Revolutionary Theory and Practice: A Critical Guide,
Boulder/CO-London 1991 (vgl. die Besprechung von Ulrich Schiefer in der Peripherie 53,
1994)
Weitere Texte
Davidson, Basil, Die Befreiung Guineas, Frankfurt/M 1970
Rudebeck, Lars, Guinea-Bissau, A Study of Political Mobilization, Uppsala 1974
Schiefer, Ulrich, Guinea-Bissau: Entwicklungspolitik und der Zusammenbruch afrikanischer
Gesellschaften, Hamburg 2002
Sigrist, Christian, »Guinea-Bissau: Akephale politische Systeme und nationale Befreiung«, in:
J.-H.Grevemeyer (Hg.), Traditionelle Gesellschaften und europäischer Kolonialismus, Frankfurt/M
1981 (portug. 1980)
der UNO einen wichtigen Aktionsraum, während Fanons Wahrnehmung durch die Kompli- zenschaft der UNO
bei der Ermordung Lumumbas geprägt war. Zu berücksichtigen ist dabei beim Vergleich der beiden
Protagonisten des antikolonialen afrikanischen Widerstandes die zeitliche Differenz zwischen den
Texten und die großen Unterschiede in den Aktions/ Analyse-Bereichen. Im Übrigen wirkt sich auch
die unterschiedliche wissenschaftliche Aus- richtung aus. Beide übten zwar nützliche Berufe aus,
Fanon als Mediziner und Psychiater, Cabral als Agronom, aber der eine war eher Psychologe, der
andere Soziologe. Gemeinsam war beiden der Berufsbeginn im Kolonialsystem. Es bleibt aber
festzuhalten, dass Cabral seine wichtigen Sozialstrukturanalysen 1964 im Centro Frantz Fanon in
Treviglio vorge- tragen hat (vgl. Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Paris 1966, und Pour la
révolution
africaine, Paris 1969).